100 Jahre Behandlung Nervenkranker in Gehlsheim bei Rostock

Vortrag von Kristin Friederike Galleck (Universität Rostock, Oktober 1999, Tagung DGGN in Stralsund)

1896 als großherzögliche Heil- und Pflegeanstalt eröffnet, übernahm Gehlsheim zunächst die Behandlung Nervenkranker aus der Anstalt Sachsenberg (Schwerin), die zu dieser Zeit hoffnungslos überfüllt war. Gleichzeitig war sie als Einrichtung der Universität gedacht - die Rostocker Universität war damals eine der wenigen, die an der Medizinischen Fakultät keine Nervenklinik nachweisen konnten. Gehlsheim blieb jedoch zunächst als Anstalt bestehen.

Der erste Direktor, Fedor Schuchardt, war seit 1895 Ordinarius für Psychiatrie und gerichtliche Medizin an der Landesuniversität Rostock. Gleichzeitig wurde er Leiter der Universitäts-Poliklinik für Nerven- und Gemütskranke im Zentrum der Stadt Rostock. Schon vor seinem Tod 1913 trieb die Korruption in der Anstalt wilde Blüten. So kauften Anstaltsangehörige bei Lieferanten zu gleichen Vorzugspreisen wie die Klinik, hielten in ihren Wohnungen auf dem Anstaltsgelände nach Gutdünken Viehzeug und ließen sich vom Anstaltsdirektor - wie sie sagten - nicht "bevormunden".

Nach Schuchardt kamen Oswald Bumke und Karl Kleist an die Rostocker Universität. Für beide war es jeweils das erste Ordinariat, sie waren jung und voller Enthusiasmus. Ihnen sind eine klare und straffe Organisation des Anstaltsbetriebs, Modernisierungen der Gebäude und sanitären Anlagen sowie eine Verbesserung des Lehrbetriebs zu verdanken. Insgesamt bleibt jedoch der Eindruck, das Gehlsheim den damaligen Ansprüchen an eine Universitäts-Nervenklinik nicht genügte. Es verwundert also nicht, dass sowohl Bumke als auch Kleist das Rostocker Ordinariat nur als Sprungbrett für ihre Karriere nutzten. Bumke wurde 1916 Nachfolger von Alzheimer in Breslau, Kleist folgte 1920 einem Ruf an die Universität Frankfurt am Main.

Ein erhebliches Hindernis für die zeitgemäße Modernisierung der Anstalt stellte ihre Lage jenseits der Warnow dar. Der Weg nach Gehlsheim führte per Fähre über die Warnow oder über den Landweg. Die Straße nach Gehlsheim wurde erst in den zwanziger Jahren ausgebaut und noch 1937 benötigte man zu Fuß vom Stadtzentrum aus fast zwei Stunden.

Kleist, später auch Rosenfeld und Braun, forderte immer wieder einen Neubau für eine zweite Nervenklinik, die auf die Belange der Universität zugeschnitten und in der Nähe der anderen Universitätskliniken gelegen sein sollte. Dieses Projekt wurde aus Geldmangel der Landesregierung immer wieder verschoben und Anfang der fünfziger Jahre ad acta gelegt.

In der Zeit des Nationalsozialismus kam es zu zahlreichen Zwangssterilisationen an Gehlsheimer Patienten. Krankentötungen oder direkte Transporte in Tötungseinrichtungen sind nicht bekannt, wohl aber die Verlegungen chronisch Kranker nach Domjüch, Schwerin und Ueckermünde.

Nach 1945 wurde Ernst Braun entlassen und vor ein sowjetisches Militärgericht gestellt; er musste jedoch von dem Vorwurf, Verbrechen gegen die Menschlichkeit begengen zu haben, freigesprochen werden. Gehlsheim wurde zunächst komissarisch von Hans Heygster geleitet. 1946 war Gehlsheim von der Landesregierung zur Universitätsklinik ernannt worden. Die folgenden Jahre waren vom Wiederaufbau sowie von personellen Unsicherheiten gekennzeichnet, sowohl Heygster als auch von Stockert verließen Klinik und Land aus politischen Gründen.

Seit 1958 gab es - dem allgemeinen Trend folgend - drei getrennte Lehrstühle für Neurologie, Psychiatrie und Kinder- und Jugendneuropsychiatrie. Die Gesamtleitung der Universitäts-Nervenklinik übernahm rotierend einer der drei Direktoren, bis es 1995 zur Gründung des Zentrums für Nervenheilkunde kam, in dem jede Klinik eigenständig arbeitet.

Die Situation der Patienten und des Personals in Gehlsheim im Verlauf der Geschichte:

Zunächst war Gehlsheim für 200 Patienten vorgesehen, wobei chronisch Kranke zur Anstalt Sachsenberg verlegt werden sollten. Da auch dort nur begrenzte Kapazitäten vorhanden waren, wurden 1907 in Gehlsheim 300 Patienten gezählt. In den zwanziger Jahren, als es zu einem allgemeinen Aufschwung der Anstaltspsychiatrie kam, wurden mehr als 400 Patienten gleichzeitig behandelt.

Untergebracht waren die Kranken in ein- bis zweistöckigen Pavillon-ähnlichen Gebäuden. Wegen der dauernden Überfüllung herrschte große Enge in den Krankensälen, es wurde über stickige Luft und katastrophale hygienische Bedingungen berichtet. So hätten die Patienten statt der erforderlichen drei bis vier Garnituren an Anstaltswäsche nur ein bis zwei Garnituren zur Verfügung. In den zerschlissenen Möbeln und Fußböden nistete Ungeziefer, so dass Braun sich 1937 in einem Brief an den Rektor beschwerte, man könne im Winter keine Visite machen, ohne sich Flöhe mitzubringen.

Nach dieser Beschreibung kann man vielleicht die Situation des Personals verstehen, das häufig nur für kurze Zeit in Gehlsheim verblieb. Die sechs Arztstellen waren selten vollständig besetzt. Auch während des Krieges blieb es weiterhin eine prekäre Personalsituation - obwohl die Situation der Pflegekräfte mit 4 Patienten auf 1 Pfleger für das damalige Deutschland überdurchschnittlich gut war. (1924 waren in Gehlsheim noch durchschnittlich 25 Patienten pro Pflegekraft zu betreuen. In Rastatt kamen auch 1937 noch 17 Patienten auf einen Pfleger.)

Abgesehen von den immer wieder beklagten baulichen Unzulänglichkeiten und der Personalsituation ist es gut vorstellbar, dass eine "sachverständige individualisierte ärztliche Behandlung" schon allein wegen der hohen Patientenzahlen kaum möglich war. Zudem fehlte es an den erforderlichen technischen Geräten für eine zeitgemäße Therapie. 1914 bemängelte Bumke, dass Dauerbäder völlig fehlten - und damit eine der wichtigsten Therapiemethoden der damaligen Zeit. Sie wurden erst Anfang der zwanziger Jahre endgültig fertiggestellt. Behandelt wurde überwiegend mit Schlaf- und Beruhigungsmitteln, Morphin und Scopalamin. Seit 1914 kam in verstärktem Maße eine Arbeitstherapie hinzu, die zunächst der Versorgung der Klinik durch Garten-, Feld- und Viehwirtschaft diente. Als Mitte der zwanziger Jahre die "aktivere Therapie" durch Hermann Simon propagiert wurde, gab es in Gehlsheim bereits mehrere Werkstätten, zu Beispiel eine Schusterwerkstatt und eine Tischlerei. Erwähnenswert ist, dass es bereits seit der Jahrhundertwende üblich war, Patienten auch in "Familienfürsorge" zu entlassen. Hierzu hatte ein ehemaliger Wärter aus Gehlsheim in Liessow bei Laage eine Pflegestation eingerichtet. Auch in den dreißiger Jahren gab es keine nennenswerten therapeutischen Fortschritte. Die 1934 eingeführte Insulinschocktherapie konnte wegen Personalknappheit nur selten ausgeführt werden und wurde 1942 gänzlich eingestellt.

Seit Eröffnung Gehlsheims waren 2 Betten für neurologische Patienten vorgesehen. Unter Kleist wurde eine reguläre Aufnahme von Patienten mit neurologischen Erkrankungen und damit eine Neuorientierung zur "Neuropsychiatrischen Klinik" eingeführt, in deren Folge die Behandlung neurologischer Leiden stetig zunahm. In den zwanziger Jahren zählte man mehr neurologische Patienten als psychiatrische unter den Neuaufnahmen. Der Grund hierin mag in der kürzeren Verweildauer neurologischer Patienten liegen, aber auch darin, dass die Poliklinik für Nerven- und Gemütskranke überwiegend Nerven-, also neurologisch Kranke betreute. Sie arbeitete zwar weitgehend unabhängig vom Anstaltsbetrieb, hatte aber denselben Direktor wie Gehlsheim, was eine raschere Krankenhauseinweisung nahelegte.

Eine Besserung der Lage der Patienten konnte erst mit dem allmählichen wirtschaftlichen Aufschwung in der Nachkriegszeit erreicht werden. Auch wenn heute noch Renovierungsbedarf besteht, ist nichts mehr zu spüren von der dumpfen Enge und dem therapeutischen Nihilismus der Vergangenheit. Gerade auch durch den Gehlsheimer Park mit seinen seltenen Bäumen und Pflanzen wirkt die Klinik wie eine Oase in der hektischen Betriebsamkeit, was auch von Patienten und Mitarbeitern honoriert wird.